Negro Spirituals
Um das Thema Gospel und die Musik richtig zu verstehen, muss man um fast 4 Jahrhunderte in der Zeit zurückgehen und sich mit einem dunklen Kapitel der Geschichte beschäftigen – der Deportation von Sklaven aus Westafrika in die verschiedenen europäischen Kolonien in Amerika, später insbesondere die Vereinigten Staaten. Denn bevor es überhaupt Gospels, Spirituals und ähnliches gab, entstanden die Work Songs (zu Deutsch: „Arbeitslieder“), die von den Sklaven vor allem auf den Baumwollfeldern bei der Arbeit gesungen wurde – ursprünglich als improvisierte Wechselgesänge zwischen Vorsänger und Gruppe ohne Instrumentalbegleitung. Zusammen mit Spirituals und anderen Stilen der afroamerikanischen Musik bilden sie übrigens eine wesentliche Wurzel des Blues und des Jazz.
Parallel zu den Work Songs entstanden Negro Sprituals (heute häufig: African-American Spiriual). Das Negro Spiritual ist eine in den USA mit beginn der Sklaverei im 17. Jahrhundert entstandene christliche Liedgattung und ist als Wurzel des Gospel anzusehen. Die überlieferten Spiritual-Texte sind fast ausschließlich religiösen Inhalts und erzählen von dem Leben geschlagener, geschundener und sehnsüchtiger Menschen (der Sklaven). Die Texte erzählen von der Hoffnung dieser Menschen und ihrem Glauben an Gott. Die emotional klingenden Spirituals beschreiben meist Situationen aus dem Alten Testament, die denen der Sklaven ähneln. Sie identifizierten sich besonders mit dem „erwählten Volk“ Israel, das aus der Gefangenschaft fliehen konnte, da diese Analogie ihnen half, sich mental gegen die Abwertung durch das Sklavereisystem zu wehren. Die Traurigkeit erklärt sich nicht allein aus den prekären Lebensbedingungen der afroamerikanischen Sklaven, sondern auch aus der Trauer um Angehörige, die sie insbesondere während der Deportationswelle der Zweiten Mittelpassage (nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) einsetzende Deportation von Sklaven aus den Nord- in die Südstaaten) zu Tausenden verloren haben. Im Mittelpunkt vieler Texte stehen mutterlose Kinder und verwaiste Eltern. Es gab jedoch auch Liebeslieder und satirische Texte, die die Lebenswelt der Sklaven oder die Sklavenhalter parodierten, sowie Texte, die in versteckter Form über den Abolitionismus (Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei) und die Hoffnung auf Befreiung berichten.
Die Entstehungsgeschichte des Spirituals
Im Jahre 1619 trafen die ersten aus Afrika verschleppten Sklaven im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia ein. Sie wurden auf den großen Tabak- und Baumwoll-Plantagen zur Zwangsarbeit eingesetzt. Diese Arbeit war hart, kleinste Vergehen wurden streng und brutal geahndet. Die Bestrafung mit der Peitsche war üblich und alltäglich.
Die tiefe Verwurzelung des christlichen Glaubens in der weißen Bevölkerung erklärt die Skrupel, Christen als Sklaven zu halten. So erklärt sich auch, warum niemand auch nur das geringste Interesse hatte, diese Menschen zu missionieren. Man hätte sie nicht mehr als Sklaven halten und einsetzen können. Diesem „Dilemma“ entkamen die Sklavenhalter durch ein Gesetz im Jahr 1667, welches festlegte, dass der Übertritt eines Sklaven zum Christentum an dessen sozialer Stellung nichts änderte.
Schon vor Verabschiedung dieses Gesetzes gingen die Schwarzen mit ihren Besitzern in die Gottesdienste der christlichen Kirchen, wobei die inhaltliche Gestaltung des Gottesdienstes sich nach den Vorstellungen der weißen Oberschicht richtete. Nach 1667 änderte sich dies langsam. So kamen die Gottesdienste der Methodisten und Baptisten durch ihre bodenständige Art bei den Sklaven besonders gut an. Die Leidensgeschichte Jesu berührte sie zunehmend. Sie identifizierten sich damit und nutzten andererseits eine der wenigen ihnen erlaubten Ausdrucksmöglichkeiten, ihre Anliegen zu formulieren. Diese versteckten sie hinter christlichen Metaphern. Diese Doppeldeutigkeit der Sprache ist bis heute typisch für afroamerikanische Musikstile. Die Afrikaner brachten auch Einflüsse ihrer Heimatkulturen mit in die vorhandene weiße Kirchenmusik: ihre Überlieferungen, ihren Mehrgottglauben und die religiöse Ekstase, aber auch musikalische Elemente wie die Polyrhythmik und die Verwendung anderer Töne als die der europäischen Tonleiter (Blue Notes).
So entstanden eigenständige schwarze Kirchen und die afrikanische Religiosität vermischte sich mit der christlichen Lehre. Da Musik, Tanz und Gesang untrennbar mit dem afrikanischen Alltag verbunden waren, wurden sie zu einem wichtigen Bestandteil der schwarzen Gottesdienste. In der rhythmischen Zwiesprache des Predigers mit der Gemeinde (Call and Response) entwickelten sich spontan Lieder, die einen Bibeltext als zentrales Element hatten. (Der Wechselgesang in unserer Zeit bezieht sich zumeist auf Strophe und Refrain. Während einer die Strophen singt, antwortet die Gemeinde mit dem Refrain.) Die Spirituals wurden auch im Alltag gesungen. Sie entstanden in freier Improvisation und wurden mündlich überliefert.
Tonbeispiel zu "Call and Response": O happy Day
Typisch war ein fließender Übergang von Predigt zu Musik: Die mit gehobener Stimme vorgetragene Predigt eines Laienpredigers wurde von der Gemeinde mit „Moans“, d.h. Ausrufen wie „Amen“ oder „Oh Lord“ begleitet, die nach und nach in einen meist synkopierten gemeinsamen Rhythmus übergingen, der durch Schrittfolgen oder Klatschen verstärkt wurde. Auf dieses rhythmische Fundament konnten nun einzelne Gemeindemitglieder ihre „Calls“, d.h. emotionale Aussagen oder Bibelstellen rufen, die von dem Rest der Gemeinde mit „Responses“ beantwortet, d.h. ergänzt oder teilweise wiederholt wurden. Spirituals entstanden also aus einer Mischung aus individueller und gemeinsamer Improvisation auf der Basis allen bekannter rhythmischer Figuren aber auch biblischer Texte. Ihrem improvisierten Ursprung gemäß waren die Spirituals, wenn sie einmal entstanden waren, auch nicht statisch, sondern konnten je nach Situation und Kontext in Tempo etc. abgewandelt werden.
Die Vielschichtigkeit der corn ditties („Mais-Liedchen“), wie die frühen Spirituals im ausgehenden 18. Jahrhundert genannt wurden, lässt unterschiedliche Deutungen zu. Zum einen stehen Anspielungen auf die soziale Situation neben der Jenseitsgläubigkeit. Der Aufruf zum Protest steht neben der Sehnsucht nach Freiheit. Der Glaube an Jesus steht neben dem Bedürfnis nach einer Errettung aus der Sklaverei.
Sobald die weiße Herrschaft Elemente der Spirituals als heidnisch erkannte, wurden diese verboten. So verschwanden der Tanz, die Fetische und Altäre. Auch das Trommeln war zumeist verboten, da die weißen Sklavenhalter darin eine Form der Konversation sahen, die sie nicht verstanden. So wurde es durch das bekannte Klatschen oder Stampfen ersetzt oder den Trommeltanz, bei dem mit einem Trommelschläger in der Hand auf einem Bein gehüpft wird.
Spiritual als Kommunikationsmittel
In den rund 250 Jahren der Sklaverei wurden etwa 10 Millionen Schwarze nach Amerika verschleppt. Die unmenschliche Unterdrückung der afrikanischen Bevölkerung in den USA führte zu geplanten Aufständen gegen die Sklaverei. Zwischen 1670 und 1865 gab es 130 bewaffnete Aufstände durch Sklaven, die aber weitgehend blutig niedergeschlagen wurden. Der Wunsch der Befreiung war unter der schwarzafrikanischen Bevölkerung immer präsent. Allerdings war der Weg aus dem Süden ins freie Kanada weit und beschwerlich. Ab 1838 organisierten Gegner der Sklaverei die Underground Railroad – einen Fluchthilfe-Organisation mit Schutzhäusern, Fluchthelfern und geheimen Fluchtwegen.
Oft ist in diesem Zusammenhang auch von verschlüsselten Botschaften die Rede, die das Wann, Wo und Wie der organisierten Fluchten mitteilen sollten. Als versteckte Kommunkationsmittel sollen beispielsweise bestimmte Motive auf Quilts (kunstvoll dekorierten Flicken-Steppdecken) und eine religiös codierte Sprache in in Gesängen gedient haben. Obwohl die historischen Belege für solche – meist ohnehin nicht schwer zu entschlüsselnden und daher unsicheren – Codes recht dünn gesät sind (s. Songs of the Underground Railroad), sollen hier ein paar Beispiele für diese populäre Art der Interpretation genannt werden.
So wurden Gebiete ohne Sklaverei angeblich mit „My Home“, „Sweet Canaan“ oder „The Promised Land“ umschrieben. Diese Gebiete lagen auf der nördlichen Seite des Ohio River, den man in der verschlüsselten Sprache als „Jordan“ bezeichnet haben soll. Die Flüchtlinge wateten durch das Wasser, um die Hunde der Verfolger abzuschütteln („Wade in the Water“).
Berühmt wurde die 29-jährige geflohene Sklavin Harriet Tubman, die 1849 selber Fluchthelferin bei der Underground Railroad wurde. Ihr Codename war „Moses“ – womöglich referenziert in „Go down, Moses“.
Tonbeispiel zu mutmaßlichen versteckten Codes: Go down, Moses
Über die fragliche Hypothese, dass der „Chariot“ in „Swing Low, Sweet Chariot“ für die Konstellation des Großen Wagens steht, haben wir an anderer Stelle bereits berichtet.
Manche Spirituals waren auch ganz einfach ein Ruf nach Freiheit und Aufforderung zur Flucht („Steal Away“). Diese Vermischung von religiösen und weltlichen Aussagen sowie das Singen der überwiegend religiösen Spirituals in weltlichen Kontexten wurde jedoch nicht als Profanierung verstanden sondern entsprach eher den in vielen afrikanischen Religionen üblichen fließenden Übergang zwischen Alltagswelt und Religion. Ein direktes Zusammentreffen mit Gott ist daher Bestandteil vieler Spiritual-Texte (z.B. in „My Lord What a Mourning“: „I'm going to live with God“).
Negro Spirituals in deutschen Kirchengesangbüchern
Einige Negro Spirituals sind Bestandteile offizieller deutscher Kirchengesangbücher. Im Evangelischen Gesangbuch findet sich (EG 499) „Singing with a Sword“ und wurde zum Lied „Erd und Himmel sollen singen“. Das weihnachtliche „Go Tell It on the Mountain“ wurde im protestantischen Gesangbuch zu einem Abendmahlslied (EG 225) und heißt dort „Komm, sag es allen weiter“. Auch in verschiedenen katholischen Gesangbüchern sind solche Adaptionen zu beobachten.